Laia Abril

On Mass Hysteria
30.06 – 01.10.2023

Laia Abril (geb. 1986 in Spanien) greift für ihre gesellschaftskritischen Projekte zu feministischen Anliegen auf Fotografien, Archivmaterial und diverse Medien zurück und lässt vielerlei soziologische, historische und anthropologische Überlegungen einfliessen. Ihre Langzeitprojekte sind in Kapitel gegliedert. Im Photo Elysée präsentiert die Künstlerin ihre jüngste Recherchearbeit: On Mass Hysteria, ein Thema, dessen erster Entwurf für Laia Abrils Nominierung für den Prix Elysée 2019 gesorgt hatte. Massenhysterie ist eine Reaktion auf bestimmte Umstände, in denen Frauen unter extremem Stress stehen, sich unterdrückt oder in Situationen gedrängt fühlen, in denen sie nicht kommunizieren oder ihre Gedanken und Gefühle äussern können. On Mass Hysteria macht diesen Leidensausdruck in der Darstellung von Frauen im Laufe der Geschichte sichtbar.

On Mass Hysteria

In Salem wurden unheilbringende Hexen angeklagt und hingerichtet, während in ganz Europa besessene Nonnen wie Katzen miauten und sich im Krampf verrenkten. In Internaten in der Schweiz und in Deutschland begannen Hände zu zittern, Lachkrämpfe schüttelten Studentinnen in Tansania durch. In Afghanistan fielen heranwachsende Mädchen in Ohnmacht und 600 Schülerinnen in einem mexikanischen Internat konnten plötzlich nicht mehr geradeaus laufen. In den Kleiderfabriken Kambodschas haben in den letzten zehn Jahren Tausende von Frauen das Bewusstsein verloren und in den USA wurden Cheerleader ohne jeden biologischen Grund von nervösen Ticks und Krämpfen erfasst.

Die Massenhysterie, auch "kollektive Hysterie" oder – ein heute weithin anerkannter Begriff – "psychogenes Massenleiden" genannt, kommt zustande, wenn eine Gruppe eng zusammenhaltender Frauen unerträglichen gesellschaftlichen Umständen ausgesetzt wird, denen sie nicht entkommen kann. In einer solchen Stresssituation beginnen sie alle, ohne jede organische Ursache, unkontrollierbare Bewegungssymptome, wie beispielsweise Zittern, Weinen, Krämpfe, nervöse Ticks oder sogar Ohnmachtsanfälle, zu entwickeln. Diese Symptome erinnern oft an tranceähnliche Zustände und halten mitunter monatelang an. Obwohl dieses Phänomen bereits unter verschiedenen kulturellen und wissenschaftlichen Aspekten untersucht worden ist, sind zwei Grundsatzfragen weiterhin ungeklärt: Wie verbreitet sich das Phänomen und warum entsteht es hauptsächlich unter jungen Frauen, speziell im Teenageralter?

Mit dem Begriff "Hysterie" bezeichnete man früher gern medizinisch als "schwierig" geltende Frauen. Der Medizinhistoriker Robert Woolsey hält Hysterie für eine Protosprache, die Symptome sind für ihn ein "Code, der verwendet wird, um eine Botschaft zu überbringen, die aus unterschiedlichen Gründen nicht in Worte gefasst werden kann."

Geht man der Vorstellung von Massenhysterie als einer Form unbewussten Protests nach, so entdeckt man, dass die Wellen oft junge Mädchen oder Frauen treffen, die in niedrigen gesellschaftlichen Positionen mit schwierigen Situationen konfrontiert werden – gnadenlose Internatsregeln, menschenverachtende Arbeitsbedingungen in einer Fabrik oder Isolation in religiösen Einrichtungen wie Klöstern. Josefina Ramírez, eine medizinische Anthropologin aus Mexiko, vertritt dazu eine interessante Ansicht: Massenhysterie könnte eine kollektive körperliche Antwort als Symbol für den Kampf junger Frauen sein, die sozialer Ungleichheit ausgesetzt sind.

On Mass Hysteria, das Auftaktkapitel zu A History of Misogyny, geht der Hypothese einer historischen Protosprache weiblichen Protests nach. Das Projekt zieht den vorherrschenden psychologischen Ansatz in Zweifel, demzufolge Frauen selbst an all jenen Krankheiten schuld sind, die die Medizin nicht erklären kann, und betont gesellschaftliche Faktoren wie soziale und politische Unterdrückung. Mit On Mass Hysteria will die Künstlerin das gemeinsame Leiden an generationenübergreifenden Traumata zeigen, die von Frau zu Frau weitergegeben und von der Gesellschaft meist ignoriert oder heruntergespielt werden.

Video

Laia Abril

Laia Abril (geb. 1986 in Barcelona) ist eine multidisziplinär arbeitende Künstlerin, deren inhaltliche Schwerpunkt Frauenrechte, Trauer und Biopolitik sind. In ihrer recherchebasierten Praxis geht sie mithilfe von Fotografie, Text und Ton komplexen, verdeckten Wirklichkeiten auf den Grund.

Eines ihrer Hauptprojekte, A History of Misogyny [Eine Geschichte der Frauenfeindlichkeit], wurde in mehr als 15 Ländern ausgestellt. Abrils Werke sind inzwischen in den Sammlungen des Centre Pompidou und verschiedenen regionalen Kunstsammlungen (FRAC) in Frankreich, im Victoria & Albert Museum in London sowie im Photo Elysée und im Fotomuseum Winterthur in der Schweiz zu finden. Für ihre Arbeit wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter insbesondere 2016 der erste Prix de la Photo Madame Figaro – Arles, 2020 der FOAM Paul Huf Award in Amsterdam, 2022 die Hood Medal in London und 2023 der Shpilman Award in Jerusalem.

Darüber hinaus ist Laia Abril Autorin mehrerer bemerkenswerter Bücher, wie The Epilogue (Dewi Lewis, 2014) und Lobismuller (RM, 2016), für das sie 2015 den Preis Images Vevey Best Book erhielt, sowie On Abortion (Dewi Lewis, 2018), mit dem sie für den Deutsche Börse Photography Foundation Prize nominiert und 2018 mit dem Aperture-Paris Photo Best Book Award ausgezeichnet wurde. Ihre jüngste Publikation, On Rape, ist 2022 bei Dewi Lewis erschienen. Sie unterrichtet an der Hochschule Luzern und wird von der Pariser Galerie Les Filles du Calvaire vertreten.

Ausstellungsansichten

Ausstellungen Weltweit

Menstruation Myths

Gleichzeitige Ausstellung im L’Appartement – Espace Images Vevey.
Place de la Gare 3, 1800 Vevey.

Parallel zur Ausstellung Laia Abril. On Mass Hysteria, L'Appartement - Espace Images Vevey, Ausstellungsraum von Images Vevey, präsentiert Laia Abril. Menstruation Myths vom 28. Juni bis zum 5. November 2023. In diesem Projekt prangert Laia Abril die Schwierigkeiten an, mit denen menstruierende Menschen in Gesellschaften konfrontiert sind, die diesen biologischen Mechanismus verachten. In Text und Bild erforscht sie die Mythen und Überzeugungen verschiedener Kulturen und vermischt dabei verwirrende Statistiken über den Alltag von Mädchen und Frauen während ihrer Zyklen. Die Installation, die sowohl Recherchen als auch visuelle Metaphern präsentiert, vermittelt ein besseres Verständnis der tragischen Auswirkungen der Unkenntnis und des Schweigens, die den Menstruationskalender umgeben.

Krediten

Koproduktion

Die Austellung Laia Abril. On Mass Hysteria ist eine Koproduktion von Photo Elysée, LE BAL, Paris und The Finnish Museum of Photography, Helsinki.

Partner

Ausstellung mit der Unterstützung von dem Budesamt für Kultur.